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Krisenfeste Systeme

Stellen Sie sich vor, sie wollen nach Teneriffa fliegen. Sie sitzen in der Maschine und blicken auf den blauen Atlantik hinunter, als der Kapitän des Fliegers ankündigt, dass das Computersystem ausgefallen ist und es keinen Ersatz gibt. Man können nur notlanden - aber ohne einen Notruf absetzen zu können. Sorry. Die Airline habe eben gespart.

Bei schönem Wetter (guten Bedingungen) funktionieren alle gesellschaftlichen Bereiche und Systeme weitgehend gut. Doch wehe, es wird wirklich Winter und/oder ein neues Virus taucht auf. Dann wird deutlich, wieviel in unserer Gesellschaft nur schönwetter-tauglich ist. Der Fachbegriff der Schneiderzunft lautet: auf Kante genäht. Andere Experten sprechen von mangelnder Redundanz oder Fragilität. Risiken dürfen nicht auftauchen, sonst geht das System in die Knie.

"Alle reden vom Wetter. Wir nicht." Das war 1966, als die Deutsche Bahn (damals noch Bundesbahn!) Werbung für sich machte. "Deutschland hat das beste Gesundheitssystem der Welt." Das sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Weltärzteverbandes, auf der Hauptversammlung des Hartmannbundes im November 2019.

Leider fuhr die Bahn Anfang 2021 dann doch nicht wie versprochen, weil unter anderem Weichen eingefroren waren, da die Heizungen 'weggespart' wurden. Leider hat die Politik weniger Zuversicht als Herr Montgomery, denn Lockdown und andere Maßnahmen sollen die Überforderung des von der Politik auf 'Verschlankung' getrimmten Gesundheitssystems verhindern.

Wir erwarten von Dingen und Systemen, dass sie nicht sofort unter besonderer Belastung zusammenbrechen, sondern ein gewisses Mass an Robustheit bei der Erfüllung ihrer Zwecke aufweisen. Wir haben uns z.B. daran gewöhnt, dass (die meisten) Autos die Eigenschaft besitzen, auch bei starker Verformung durch einen Unfall die Insassen vor schweren Verletzungen zu schützen. Wenn es in einem Dorf jahrelang nicht gebrannt hat, wird man deshalb nicht die Feuerwehr abschaffen. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für ein kritisches Ereignis oder eine kritische Entwicklung gering ist, muss man immer berücksichtigen, mit welchen Folgen (Kosten welcher Art) man zu rechnen hat, wenn der Krisen- oder Katastrophenfall eintritt. Und man muss entscheiden, ob man Vorsorge trifft oder die Folgen in Kauf nimmt. Es ist zu spät, eine Feuerwehr zu gründen, wenn es schon brennt. (1)

Deshalb erwarten wir auch von bestimmten gesellschaftlichen Einrichtungen wie der Bahn und dem Gesundheitssystem (aber auch von anderen Systemen) Robustheit oder besser noch: Resilienz. Gemeint ist damit die Fähigkeit eines Systems, eines Unternehmens, einer Person, ihren zentralen Sinn und Zweck, ihre Einheit und Unversehrtheit angesichts dramatisch veränderter Rahmenbedingungen und Umständen aufrechtzuerhalten. (2) Verkürzt kann man dies als 'Stehaufmännchen-Kompetenz' bezeichnen. Es geht darum, Krisen und Katastrophen nicht nur zu bewältigen, zu überleben, sondern sogar gestärkt aus Extremsituationen hervorzukommen.

Leider stellen wir fest, dass zentrale Bereiche unserer Gesellschaft ohne Not geschwächt werden (fragil sind, siehe 3). Das ist nicht nur fahrlässig, sondern nicht hinnehmbar. Vor allem dann, wenn die Folgekosten die Betriebskosten massiv übersteigen. Mehr Transparenz und Kontrolle der politisch Verantwortlichen ist das Mindeste, dass wir aus der aktuellen Krise lernen können. Mehr Antifragilität und Resilienz gesellschaftlicher Systeme muss das Ziel sein.

1 Nassim Nicholas Taleb: The Black Swan. The Impact of the Highly Improbable. London, 2007
2 Andrew Zolli & Ann Marie Healy: Resilience. London, 2012
3 Nassim Nicholas Taleb: Antifragile. Things that Gain from Disorder. London, 2013