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Ist Kultur systemrelevant?

Unsere Sprache ist voller mehrdeutiger und inhaltsdiffuser Begriffe, die gerne benutzt werden, gerade weil sie so schön unkonkret sind. Speziell in Wirtschaft und Politik benutzte Jargons dienen weniger eindeutiger Kommunikation als eher der Verschleierung. Ein sehr schönes Beispiel ist das Wort 'systemrelevant'.

In die Öffentlichkeit und die Medien gelangte diese Buchstabenkombination vor etlichen Jahren in der Finanzkrise. Die Rettung großer Banken wurde damit begründet, sie seien für das Funktionieren der Wirtschaft unverzichtbar, dürften mithin nicht insolvent gehen, weil eben 'systemrelevant'. Mit diesem Wörtchen wurde listig eine Ausnahme in der Theorie freier Märkte begründet. Nach Popper (1) wäre diese Theorie zu verwerfen.

Mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit neoliberaler Theorien (Mythen?) möchte ich mich hier nicht befassen. Stattdessen schlage ich vor, in guter erkenntnistheoretischer Praxis die Frage nach der Systemrelevanz der Kultur zu stellen, die durch die Corona-Poltik enorm gebeutelt wird, und die Antworten darauf zu finden. Unter 'Kultur' verstehe ich alle menschlichen Aktivitäten, die mit Musik, Tanz, Malerei, Bildhauerei, Literatur, Theater, Film und ähnlichem zu tun haben bzw. diese hervorbringen. Und die Frage lautet: 'WAS WÄRE, WENN ES KEINE KULTUR GÄBE?'

Wahrscheinlich gäbe es in Radio und Fernsehen nur Nachrichten, in den Zeitungen ebenso, was zunächst nicht besonders dramatisch klingt. Vermutlich gäbe es keine Musikinstrumente, nur Signalgeräte (Sirenen ...), damit auch keine Musiker. Gesungen würde wohl nicht. Farbe im Alltag würde nur durch die Natur bereitgestellt, denn ansonsten wäre sie bis auf Ausnahmen (Signalfarben) nutzlos. Künstlerische Betätigung würde es nicht geben. Keine Theater. Keine Museen. Keine Galerien. Die Buchmessen nur für Sachbücher. Keine Romane mehr. Keine Dichtung, ausser technische. Vielleicht gäbe es auch keine Innovationen mehr, denn dafür braucht man Kreativität.

Es wird schnell deutlich: das Leben, dessen Vielfalt, Würze, Sinn, würde aus dem Alltag getilgt. Das erinnert an den Witz (oder doch Wahrheit?), der über den Blick eines McKinsey-Beraters auf ein Orchester in Umlauf ist (2). Aber es reicht viel tiefer. Mensch und Kunst scheinen sich auf subtile Weise gegenseitig zu bedingen. Kunst ist vermutlich unverzichtbar für die Menschheit. Und damit systemrelevant. Die Geschichte des sozialen Wesens Mensch zeigt, dass wir wohl ohne Geld auskommen können, durch Tauschhandel und gegenseitige Verpflichtung. Aber ohne Kunst?

1 Karl R. Popper: Logik der Forschung. Springer, Wien 1935
2 https://www.karger.com/Article/Pdf/57817